ZEIT ONLINE, 18 Januar 1980
Wiederentdeckt: der Dichter und Theoretiker E. M. Cioran
Vor einigen Monaten ist auf dem deutschen Büchermarkt ein Werk erschienen, das vor 25 Jahren erstmals das Licht der deutschen Literaturwelt erblickte und in kürzester Zeit vergriffen war: “Die Lehre vom Zerfall” von E. M. Cioran in der Übersetzung von Paul Celan. (Das Verdienst der jetzigen Neuauflage kommt dem Klett-Cotta-Verlag zu. Zur Celanschen Übersetzung sei eine Bemerkung erlaubt. Sie ist dicht und von expressionistischem Farbreichtum, opfert aber teilweise der tiefsinnigen Pointierung die perlende, kristallene Linearität des französischen Originals.)
Vor einem Vierteljahrhundert eine philosophische Provokation und ein stilistisches Glanzstück, ist dieses bedrängende, aufstachelnde Buch noch heute brennend aktuell, denn das Denken, das sich hier niederschlägt und ausformt, zielt auf die Wurzeln menschlichen Seins und dessen philosophische, religiöse oder pragmatische Deutung schlechthin. Hier soll aber nicht dieser Text näher beleuchtet werden, sondern dessen Verfasser, der rumänische Philosoph und Schriftsteller E. M. Cioran.
Wer ist eigentlich E. M. Cioran? Wer ist dieser Philosoph und Meisterstilist, der als einer der faszinierendsten Denker unserer Zeit gilt, zugleich aber auch als “zersetzender Unheilsprophet”, dessen erstes Buch kurz nach seiner Veröffentlichung in acht Sprachen übersetzt wurde, das ein spitzfindiger Pariser Kritiker aber als “jugendgefährdend” verwarf, der lange Zeit hindurch ein “Geheimtip für Kenner” blieb, heute aber sowohl von der französischen Jugend wie von spanischen Linksintellektuellen und japanischen Gebildeten gierig gelesen wird?
Wer ist dieser Rumäne, den Gabriel Marcel “einen der entschlossensten und heftigsten Belastungszeugen des nie endenden Prozesses, den der Mensch gegen die Welt, gegen Gott führt, seit jene Anomalie ohnegleichen, die menschliche Reflexion heißt, eingesetzt hat”, nannte, und der allgemein als “klassischer Meister” und “kreativer Erneuerer” der literarisch so vorbelasteten französischen Sprache anerkannt wird?
E. M. Cioran wurde 1911 in Rasinari bei Hermannstadt in Siebenbürgen als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters geboren. Seine ersten Lebensjahre, die er selber als “äußerst glücklich” bezeichnet, verbrachte er auf dem Lande. Später studierte er Philosophie an der Bukarester Universität. Sein besonderes Interesse galt in jener Zeit der Lebensphilosophie Bergsons, der deutschen Philosophie und Ästhetik (so z. B. Simmel, Wölflin usw.) und den russischen Spiritualisten, vornehmlich Schestow. Am meisten fesselte ihn jedoch Dostojewksij. 1933 erschien Ciorans erstes Buch in rumänischer Sprache “Auf den Gipfeln der Verzweiflung”. Darauf folgten andere Veröffentlichungen. Zwischendurch unterrichtete er an einem Gymnasium. Genialität und Philosophie des Zerfalls vertrugen sich aber nicht so recht mit dem schulischen Alltag … 1937 zog Cioran mit einem Stipendium in der Tasche nach Paris, um dort sein philosophisches Studium fortzusetzen. Da die französische Landschaft ihn aber mehr anzog als die akademischen Ehren, gab er seine wissenschaftlichen Projekte auf und radelte statt dessen durch fast alle “départements”. (Kürzlich wurde er sogar in einer Sendung über die Geschichte des Radsports rühmlich erwähnt!)
Als die studentische Sinecura-Zeit ein Ende nahm, war Cioran kurze Zeit an einem Verlag tätig, “dessen Bankrott ich sicher bewirkt hätte, wäre ich länger dort geblieben”. 1947 beginnt Cioran in französischer Sprache zu schreiben. 1949 erscheint “Die Lehre vom Zerfall”, jenes vernichtende und zugleich faszinierende Buch, in dem sein heftiges Ringen um die Sprache bezeugt, daß er das Werk viermal geschrieben hat.
Dieser Rumäne, den der sonst an Lob so karge Saint John Perse als den hervorragendsten französischen Essayisten nach Valéry bezeichnet, wird in kürzester Zeit von einer Elite Eingeweihter hochgeschätzt. Acht weitere Bücher folgen darauf und zahlreiche kürzere Texte, die in der traditionsreichsten literarischen Zeitschrift Frankreichs, der NRF, veröffentlicht werden. In deutscher Übersetzung sind, abgesehen vom eingangs erwähnten Buch, bereits erschienen: “Geschichte und Utopie” (1965), “Syllogismen der Bitterkeit” (1969, “Der Absturz in die Zeit” (1972), “Die verfehlte Schöpfung” (1973), “Vom Nachteil geboren zu sein” (1977)…[+]
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[…] [1] “Ein Geheimtipp für Kenner”, a German phrase that stuck to Cioran ever since Verena von der Heyden-Rynsch employed it, on a newspaper article, in 1980, to characterize Cioran in the context of the critical reception of his books in Germany, highlighting Cioran’s obscurity or clandestinity, which made him known only by qualified readers who would be familiar with (“inside”) those authors who, like Cioran, are obscure, off-beat, unknown to the wide public. See https://portalcioranbr.wordpress.com/2019/10/19/rechenfehler-der-natur-verena-heyden-rynsch-2/ […]
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[…] [1] “Ein Geheimtipp für Kenner”, a German phrase that stuck to Cioran ever since Verena von der Heyden-Rynsch employed it, on a newspaper article, in 1980, to characterize Cioran in the context of the critical reception of his books in Germany, highlighting Cioran’s obscurity or clandestinity, which made him known only by qualified readers who would be familiar with (“inside”) those authors who, like Cioran, are obscure, off-beat, unknown to the wide public. See https://portalcioranbr.wordpress.com/2019/10/19/rechenfehler-der-natur-verena-heyden-rynsch-2/ […]
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